“Wie verändert KI die Arbeitswelt?” Das interessiert die FAZ (20.07.2023) und sie befrägt Experten zur 3- respektive 4-Tage-Woche. Was dabei herauskommt ist, dass die Produktivität steigen würde und mit ihr die Gewinne, dass wir mehr Wohlstand schaffen würden und weniger arbeiten müssten. So weit, so verführerisch. Das alles käme aber nur, wenn wir mehr Chancen als Risiken sehen würden. Andernfalls könnte die Industrie abwandern. KI werde Arbeitsplätze verändern. Wo und wie sei schwer einschätzbar. Von Horrorszenarien werde abgeraten. Von der Arbeitswelt ist ansonsten recht wenig die Rede.
Was sich nach meiner Auffassung stattdessen wirklich ändert und zwar in atemberaubendem Tempo, ist die Beschleunigung von Veränderungen in der Wirtschaft, wie in fast allen Bereichen des Lebens.
Beinahe täglich werden wir überrascht, was “KI” inzwischen alles kann. Gestern kam mein Sohn und spielte mir “Gangsters Paradise” vor und fragte mich, was ich glaube, wer das singt. Ich traute meinen Ohren nicht. Ich war mir sicher, das ist Frank Sinatra. Auch das ganze Arrangement passte dazu. Aber ist das möglich? Sinatra ist 1998 gestorben und das Orginal von Coolio 1995 erschienen. Es könnte sein, aber ist es auch wahrscheinlich? Eher nicht. Die Cover-Version wurde von einer KI produziert.
Aber mir geht es nicht um die Täuschung. Obwohl das auch ein wichtiges Thema ist. Mir geht es um den Veränderungsdruck, der dadurch in der Wirtschaft und Arbeitswelt entsteht. Und das ist kein Zufall. Die marktwirtschaftliche Ordnung lebt vom Wettbewerb. Für Unternehmen gibt es im Grunde nur drei Strategien, um sich durchzusetzen und zu behaupten: höhere Qualität, günstigerer Preis oder intelligentere Kommunikation. Alle drei erfordern Innovation – bei der Effektivität, bei der Effizienz oder beim oft vergessenen dritten “E”, der Eleganz bzw. Ästhetik. Es ist fast schon zwangsläufig, dass sich KI in allen drei Bereichen durchsetzen wird. Heute heißt das: Die Schnellen werden die Langsamen fressen.
Wir erleben, in wie kurzer Zeit ChatGPT “gelernt” hat, mit seinen Schwächen umzugehen. Bei Fragen zur Zeit nach 2021 weist die Software darauf hin, dass ihr nur Internetquellen aus der Zeit vor 2021 zur Verfügung stehen. Fragen zu ChatGPT vor 2022 beantwortet die Software damit, dass sie davor nicht existiert hat. Und bei Quellenangaben gibt sie jetzt disclaimerartige Hinweise.
Aber hat sie wirklich “gelernt”? Oder wurde ihr hart einprogrammiert, bei entsprechenden Fragen nicht zu halluzinieren und stattdessen wie beschrieben zu antworten? Was aber ist so schlimm am “halluzinieren”? Ich erinnere mich an Mitschüler, die sich vor der Tafel etwas “zusammenreimen”, wenn sie die Antwort nicht wissen. Oder an Kollegen, die in Kundengesprächen auf “kreative” Beratung umschalten, wenn sie nicht mehr weiterwissen.
Aber nicht nur das. Was geschieht, wenn Maschinen Innovationen entwickeln? Und was, wenn sie in diesem Prozess nicht mehr von Menschen gesteuert werden, sondern von sich selbst? Was wir erleben werden, ist ein exponentielles Wachstum bei Veränderungen. Vor allem bei der sogenannten künstlichen Intelligenz. Die Evolutionsforscherin Susann Blackmore (2003) ist sogar davon überzeugt, dass mit den digitalen Technologien nach den biologischen Genen und den kulturellen Memen ein dritter, technologischer Replikator (“Teme”) entstanden ist, der ebenfalls den Prinzipien der Evolution folgt und ihre weitere Entwicklung bestimmen wird.
Möglicherweise wird die techologische Singularität tatsächlich die letzte Erfindung der Menschheit sein (vgl. Vowinkel, 2016). Weil KI von da an nicht nur schneller sein wird als wir, sondern uns nicht mehr benötigt. Der Zeitpunkt, wann Maschinen uns überlegen sein werden, wird aus berufenem Munde auf das Jahr 2029 beziffert. Der Mensch muss es wissen: Er heißt Ray Kurzweil und ist Director of Engineering bei Google. Die letzten Refugien menschlicher Kreativität und Innovation werden möglicherweise jene Bereiche sein, in denen sich kein Geld machen lässt oder kein Machtzuwachs. Oder endloses Entertainment in der Nährlösung (vgl. The Matrix, 1999).
Darauf sind wir (noch) nicht vorbereitet. Einzelne IT-Entwickler, Wissenschaftler, Philosophen, Soziologen und Politiker setzen sich damit auseinander. Aber von einem gesellschaftlichen Bewusstsein über das, was man schon heute wissen kann, sind wir noch weit entfernt. So auch eine kritische Stimme in dem FAZ-Beitrag („Die Menschheit ist noch nicht bereit für KI”).
Für Unternehmen bedeutet das, systematisch und strukturiert Fähigkeiten aufzubauen und zu entwickeln mit Veränderungen, insbesondere unerwarteten, nicht eindeutigen und unberechenbaren Veränderungen umzugehen. Und das auf allen drei Ebenen: Individuum, Team und Organisation. Die Frage wird immer weniger sein: Stabilität und Sicherheit oder Veränderung und Innovation? Die Antwort muss lauten: beides. Das Prinzip der “Beidhändigkeit” (Ambidextrie) muss sich von Führung über Management bis in die Kommunikation durchziehen. Dadurch erhalten Diskussionen über dezentrale, hybride Organisation, agiles Management und Führen auf Distanz eine neue Qualität.
Was mich – noch – beruhigt, ist die Tatsache, dass Software den entwicklungsgeschichtlich ältesten menschlichen Sinn, das Riechen, nicht im Programm hat. Auch wenn das Handelsblatt schon vor über einem Jahr – und damit vor ChatGPT! – getitelt hat: “Parfüm per KI geht in Serienproduktion: Wie der Computer das Riechen lernt” (18.06.2022). Tatsächlich kombiniert KI auf Basis mathematischer Modelle Rohstoffe, die Menschen aufgrund ihrer Gewohnheiten und kultureller Grenzen nicht verwenden würden, und erzielt so Innovationsvorsprünge. Etwa zur selben Zeit meldet die TH Lübeck, dass eine von ihr entwickelte KI kann Whisky am Geruch erkennen kann (mdr, 22.04.2022). Aber auch sie “riecht” nicht, sondern rechnet. Scotch und Bourbon kann sie nicht unterscheiden. Da besitzt jeder Whisky-Trinker mehr Intelligenz.
Bleibt also das Helmut-Theorem. Mein alter Freund Helmut hat schon vor langer Zeit behauptet, dass wir von echter KI erst sprechen könnten, wenn sie in der Lage wäre “dreckige Witze zu erzählen und sich zu besaufen”. Gut, das erste kann sie schon. Das Letzte aber nicht. Es bleibt also Hoffnung.